January 01 2018
Juli Zeh ist für mich eine bewundernswerte und inspirierende Schriftstellerin, von der man ganz ungeniert und neidlos behaupten kann, dass sie „zu den großen deutschen Autor|innen“ zählt. Ich tastete mich vorsichtig an ihre Texte heran. Zuerst in der Uni, in einem Kurs, der sich mit deutscher Gegenwartsliteratur befasste und dann später mit Romanen wie „Spieltrieb“, „Nullzeit“ und „Unterleuten“. Immer etwas gesellschaftskritisch. Immer etwas politisch. Und immer sehr klug und wortgewandt, mit diesem gewissen scharfen Blick, den man als genaue Beobachterin zum Verfassen solcher Texte benötigt. <br /><br />Ihr neuester Roman „Leere Herzen“ befasst sich nun mit der aktuellen gesellschafts- politischen Lage Deutschlands, verpackt in ein Deutschland der nahen Zukunft. So, wie es sein könnte. <br />Britta Söldner, Hauptfigur des Romans, leitet mit Babak Hamwi „Die Brücke“, eine Einrichtung, die nach außen hin den Schein als psychotherapeutische Heilpraxis wahrt. Was sich tatsächlich hinter der Fassade verbirgt, ist aber etwas ganz anderes. Britta und Babak machen Geschäfte mit dem Tod, genauer mit potentiellen Selbstmördern bzw. Selbstmordattentätern – und das nicht gerade wenig. Britta und Babak nutzen also die gegenwärtige Lage zu ihren Gunsten. Während Britta viel Geld mit zwielichtigen, moralisch grenzwertigen Deals macht, verdient ihr Mann Richard vergleichsweise wenig. Auch Brittas Freunde Janina und Knut entsprechen quasi dem Gegenentwurf zu Britta. Sie leben als Künstler vom bedingungslosen Grundeinkommen – gut, aber auch nicht herausragend. Sowohl Britta und Richard, als auch Janina und Knut haben je eine Tochter. Zwei Familien, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, aber doch mit einem gemeinsamen Fixpunkt: gesellschaftliche und politische Desillusion geschuldet der Flüchtlingskrise, Brexit, Trump, einer zweiten Finanzkrise und dem schnellen Aufstieg der BBB (Besorgte-Bürger-Bewegung). Eigentlich läuft das Leben wie gewohnt vor sich hin, bis sich plötzlich die Ereignisse überschlagen. Irgendjemand scheint sich Brittas und Babaks Geschäftsidee zu eigen machen zu wollen und droht nicht nur ihre Firma zu ruinieren, sondern auch Brittas Familie sowie ihres und Babaks Leben zu bedrohen. <br /><br />„Leere Herzen“ ist ein zukunftsorientierter Politthriller, der erschreckend an die tatsächliche Welt da draußen erinnert. Wir begleiten Britta, tauchen tief in ihre Gedanken und Gefühlswelt ein und da geschieht etwas, was fast noch bedenklicher ist: wir spüren die Desillusion, welche die Figuren im Buch eingenommen hat und diese scheint fast auf uns Leser|innen übergreifen zu wollen. Juli Zeh schreibt intelligent, wie gewohnt wortgewandt und unterkühlt, leicht zynisch, vielleicht ist es auch ironisch von einem Deutschland, das sich selbst verliert, von einer Gesellschaft, die sich in Teilen zerstört. Das ist gut, das ist durchdacht, das soll die Augen öffnen. Britta wirkt durch diese Schreibweise und auch durch ihre Art sowie durch die erzählte Geschichte leider äußerst unsympathisch – und ohne Sympathieträger fällt es beim Lesen schwer, eine Bindung zu dem Gelesenen aufzubauen. Vielleicht soll das so. Wenn ja, es funktioniert, die Botschaft kommt an. Unglücklicherweise lässt sich das aber nicht auf den ganzen Roman übertragen. Die Autorin verknüpft Roman, Zukunftsvision und Politthriller – das ist ein Punkt zu viel. Man weiß nicht ganz, welchem Faden man folgen soll. Dem politischen wie gesellschaftlichen Zukunftsszenario oder dem Politthriller? Dadurch hängt man als Leser|in ein wenig in den Seilen. Mir persönlich hätte eine Richtung, auf die man sich ganz einlassen kann, vollkommen ausgereicht. Damit möchte ich aber keineswegs sagen, dass der Roman nicht gut sei. Ich persönlich habe aber den Eindruck, dass da noch mehr Potential drinsteckt. „Leere Herzen“ ist sicher ein wichtiges Buch, mit einer dringlichen indirekten Warnung, welches durchaus lesenswert ist, aber es holpert auf dem Weg ein wenig.
June 18 2023
4,5 ⭐️
October 15 2018
Die Sprache eine Katastrophe.<br />Das Ende eine Katastrophe.<br />Sehr enttäuschend.
November 18 2017
Ein zynisches Lehrstück in Sachen Demokratie, und das ganz ohne den erhobenen Zeigefinger, sondern sehr smart, sehr gut weitergedacht und auch unterhaltsam. In dem Roman steckt sehr viel, ich war zwischendurch kurz sprachlos, erschrocken, musste lachen, die Stirn runzeln, nachdenken, mitdenken, gegendenken, ich war gefesselt, gespannt. "Leere Herzen" ist ein politischer und ein psychologischer Thriller, der im Jahr 2025 in Braunschweig spielt und von der Idee und seiner konsequenten Umsetzung her einfach sehr sehr gelungen ist.
May 16 2020
Eigentlich wollte ich diesem Roman bis kurz vor dem Ende fünf Sterne geben, die letzten Kapitel haben mich dann aber etwas enttäuscht, weshalb es dann doch nur vier Sterne geworden sind. <br /><br />Insgesamt ist der Roman unfassbar gut geschrieben, fesselnd erzählt und inhaltlich auf eine gute Art verstörend. Ich wusste vorher eigentlich nichts über die Handlung oder die Themen, und das kann ich nur jedem empfehlen, der dieses Buch lesen möchte. Es ist schaurig schön, sich von dieser, unserer momentanen Realität in manchen Punkten nicht so fernen, Dystopie überraschen zu lassen. <br />“Das beliebte Gesellschaftsspiel namens Stress, bei dem es darum geht, einen Tag so geschickt zu packen wie einen Koffer, damit möglichst viel hineinpasst, ist für sie einstweilen beendet.“ <br />(Seite 249)
April 02 2018
Wow. Das war ein ziemlich starkes Buch. Ich muss mir noch ein paar Gedanken über das Ende machen, wahrscheinlich im Gespräch mit zwei Freundinnen, die das Buch ebenfalls lasen.<br /><br />Manche Formulierungen trafen direkt in mein Schriftstellerherz. Es ist eine helle Freude, wenn man Bücher lesen kann, bei denen man regelrecht merkt, wie sich der Sprachschatz erweitert. Juli Zeh hat dafür ein Talent und ich freue mich darauf, weitere Bücher von ihr zu lesen!
August 20 2019
Ich kann die vielen negativen Bewertungen nicht bestätigen. Aus meiner Sicht ein gelungener dystopischer und kritischer Thriller. Sie Sprache fand ich gut und flüssig lesbar - die Protagonistin jedoch unsympathisch, was meinen Lesefluss ab und zu unterbrochen hat. Das Ende ging mir ein wenig zu schnell und auch die Entwicklung der Protagonistin hat mir im Buch nicht entsprochen.<br />Habe gleich mit "Nullzeit" nachgelegt, da ich alles in allem positiv angetan bin von Juli Zeh.
October 31 2017
Deutschland in ein paar Jahren: Das bedingungslose Grundeinkommen ist Realität. Eine rechtspopulistische Partei regiert und hebelt nach und nach jede demokratische Errungenschaft aus. Die Bürger interessiert es nicht. Sich für Politik zu interessieren ist ebenso out wie Prinzipien zu haben. Man zieht sich in die Familie zurück und lebt - neuester Trend - lieber in mittelgroßen, gesichtslosen Städten als in Großstädten oder auf dem Land.<br /><br />So auch Britta, mit Haus, Mann und Kind in Braunschweig. Und einem eigenartigem Job. Sie sucht mit ihrem Partner Suizidgefährdete und versucht sie zu heilen. Zeigen sich die Patienten als definitiv unheilbar, beginnt das eigentliche Geschäft. Die Vermittlung der Person als Selbstmordattentäter an eine interessierte Gruppierung.<br /><br />Als sich eine Art Konkurrenzinstitution im gleichen Geschäftsfeld zu tummeln beginnt, entspinnt sich eine Handlung, die mit jedem professionell geschriebenen Thriller mithalten kann. Hinzu kommt eben immer der beißende Spott über eine Gesellschaft, die unserer so ganz und gar nicht unähnlich ist, gespickt mit amüsanten Alltagsdetails unserer nahen Zukunft.<br /><br />Das ist wirklich tolle Unterhaltung, zudem mag ich diese Art von Zynismus. Dass es hier und da auch eine weniger gelungene, klischeehafte Szene gibt - sei's drum. Ich kann das Buch jedem empfehlen, der etwas gleichermaßen klug Beobachtetes wie Unterhaltsames lesen möchte.<br />
March 29 2019
We are still in the very early days of post-Obama fiction in the US, but this isn't just an American Fiction situation. All over the world we're seeing a push to fascism and the chaos of the European Union/Brexit is something we often forget about. I haven't seen anything quite like what Juli Zeh is doing yet and I would very much like to see more. Zeh gives us a near-future of a domineering but democratically elected German regime that has the country both comforted and unsettled. As a reader in the US this all felt very relevant to our own political state. <br /><br />The basic setup of the book is best discovered on your own. (I'm aghast at the summary which gives WAY too much away, learning about what The Bridge really is is revealed quite effectively in the book.) Our protagonist, Britta, is the breadwinner in her family--her husband is an entrepreneur who hasn't made any actual money yet--and lives what looks like a pretty happy life. As far as everyone around her knows, she works with mentally troubled patients and does important work. But there is more to Britta than meets the eye. <br /><br />There is definitely a point where you have to just accept what this book is doing. Over time you learn more about the details of what Britta does and how she rationalizes it to herself and if you're coming in with skepticism it's going to be hard to just go along with the book. Sometimes I read to forget the world outside but when you read this book it's important to remember it. You can't tell yourself it's unrealistic and then go read the news. Zeh's speculative imagination actually feels way too real, in my opinion.<br /><br />Ultimately, though, I struggled not with Britta but with Julietta, one of her patients who seems to be just a little bit too inexplicable, more plot device than person. Some of the plot twists later on felt harder for me to understand, which clearly told me as a reader that I'd missed some crucial parts of the worldbuilding. I have a bad habit of skimming, so it's very possible it's a me problem! But also Zeh has A LOT of worldbuilding to do here, even for just a near-future story. (Seriously, imagine trying to write about 2019 politics to someone in 2015. Just imagine. And then give up.)<br /><br />I think Zeh has some interesting things to say, but ultimately I found the world she created more interesting than the plot. I really loved her previous novel DECOMPRESSION, though, and I'm still curious to see more from her. (More books in translation, please!)
June 15 2021
Eine sehr starke Gesellschaftskritik mit der Botschaft seine Wahl-Stimme nicht zu verschenken und dass nur meckern, aber nichts tun, sinnlos ist.<br /><br />Ein politisches Buch für Menschen, die gar nicht bewusst ein solches lesen möchten! Das Ende muss man verstehen, denn es hat große Auswirkungen auf die Bewertung des Buchs. Grundsätzlich hat es ganz viele Gedankengänge bei mir angeregt und Juli Zeh schreibt hier sehr deutlich, radikal und dennoch nicht zu viel und nicht zu wenig.<br /><br />Sollte man mit Suizidgedanken kämpfen, möchte ich von dem Buch abraten. In allen anderen Fällen nur empfehlen. Romantik spielt hier (wie der Titel vielleicht vermuten lässt) gar keine Rolle.